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  • AutorenbildChristine Dicker

Kleine Engel mit ganz viel Herz

- EXKLUSIV: HINTERGRUND -

 

Wir alle kennen sie, die Räuchermännchen, Nußknacker, Lichterbögen und Engel aus dem Erzgebirge. In dieser Tradition steht auch Günter Reichel mit seinem Unternehmen, das er 1989 gründete – dabei macht er aber einiges anders. Denn von Anfang an war ihm wichtig, seine eigene moderne Handschrift zu verfolgen.


Diesem Prinzip bleibt er treu und fällt damit auf. Aber der Reihe nach. Günter Reichel lebt in Pobershau, einem knapp 1700 Einwohner zählende Ort wenige Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. Hier zelebriert man die erzgebirgische Handwerkskunst – ab dem 1. Advent stehen in jedem Fester Lichterbögen, in den Gärten festlich geschmückte Weihnachtsbäume. Reichel selbst ist hier geboren, sein Vater hatte lange Jahr eine Werkstatt, in der er für andere erzgebirgische Hersteller Zubehör herstellte. Der Sohn lernte erst Werkzeugbau, studierte dann Maschinenbau und arbeitete anschließend im Kombinat Holzspielwaren in der Abteilung Forschung und Entwicklung. Dort traf er einen Mann, der sein Verständnis für Formen maßgeblich prägte: Helmut Flade, der nach der Wende mit seiner Frau Traude die Flade Werkststätte gründete.

Nach dessen Weggang aus dem Kombinat wollte auch Günter Reichel sich neu orientieren. Beim Vater einsteigen? Und als Zulieferer Teile fertigen? Das war nichts für Reichel, er sah die Gelegenheit, seine eigene Kollektion zu entwickeln. 1989 übergab der Vater daher an seinen Sohn die Werkstatt und arbeitete fortan für diesen. Ungewöhnlich, diese Konstalleation. Sie verrät auch einiges über das Verhältnis der beiden zueinander und sagt vieles über Günter Reichel aus. Der zwar unbeirrt seinen eigenen Weg verfolgt, dabei aber immer auf Ausgleich bedacht ist.

Als erste Kollektion entwickelte Günter Reichel in seiner Werkstatt moderner Figurenbildnerei eine Bauernkapelle – die sich schon von den bislang im Erzgebirge angebotenen Sortimenten unterschied: Die Figuren drücken Bewegung aus, sind nicht statisch aufgebaut. Dieser Idee bleibt Reichel bis heute treu. Als Material verwendete er Birke, die er matt lasierte, so dass die Maserung des Holzes sichtbar bleibt. Auch das ein Unterscheidungsmerkmal zu den oftmals lackierten Figuren anderer Hersteller.

Seine Bauernkapelle stellte Reichel auf der Leipziger Messe im Grassi Musuem vor. Das war nach der Wende im März 1990. Und sollte für Reichel viel bewirken. Als er 1989 startete, gab es die DDR noch, die mit dem Erzgebirgischen Genossenschaftszentrum vieles für die Hersteller aus dem Erzgebirge regelte. Unter anderem die Preisgestaltung, wie auch den Absatz in andere Länder. Das brach von heute auf morgen weg, Reichel, der im Januar mit seinem ersten Kunden in Chemnitz startete, musste sich also selbst um den Vertrieb kümmern. Als er im März 1990 erstmals an der Leipziger Messe teilnahm, hatte er Glück: Auf dieser Messe stellte auch die Porzellanmanufaktur Meissen aus – eine Einkäuferin aus Japan, die dort Meissen orderte, entdeckte die Bauernkapelle und bestellte diese in einer großen Stückzahl. Diese Geschäftsbeziehung entwickelte sich für Reichel sehr positiv, ab da verkaufte er in großen Stückzahlen nach Japan.


Das Unternehmen wuchs langsam, neben Günter Reichel arbeiteten noch seine Frau und sein Vater mit. Langsam wuchs auch das Sortiment: „Für mich war immer die Neugier da, was passt sonst noch zum Sortiment?“ Es folgten Osterhasen, später dann noch Engel – für die ist heute sein Unternehmen bekannt – sowie Krippenfiguren, Kurrendesänger, Pyramiden und anderes mehr.

Mitte der 90er Jahre änderte Reichel die Bemalung und das Holz, statt Birke verwendete er Ahorn, statt Lasur eine matte Bemalung. Auch in gestalterischer Hinsicht entwickelte sich das Unternehmen weiter – ganz nach Reichels Idee, eine moderne Handschrift zu verfolgen. Bei der Enstehung dieser unterstützte ihn der Gestalter Andreas Fleischer, mit dem Reichel heute noch zusammenarbeitet. Fleischer zeichnet, der Werkzeugbauer Reichel setzt um. Reichel wünschte sich moderne Engel. Viele viele Skizzen und ebensoviele Diskussionen später war der Reichel-Engel geboren. Mit wenigen, schlichten Formen sollte die größtmögliche Aussage getroffen werden. Gelungen, kann man nur sagen!

1995 wurden die neuen Engel, die damals noch keine Hände hatten, in Frankfurt vorgestellt. Aber die Resonanz war, wie sich Reichel erinnert, sehr bescheiden. „Damals gab es noch die Großhändler, die bestellten alle nicht, weil ihnen unsere Figuren zu modern waren“. Helmut Flade überzeugte ihn dann, den Fachhandel direkt anzusprechen. So lief es langsam an, vor allem jüngere Einzelhändler begeisterten sich für die modernen Engel. „Rückblickend war es ein schwerer Weg“, erzählt Reichel, „aber ich bin froh, dass ich mich nicht habe beirren lassen.“

Im Jahr 2008 erhielten die Reichel-Engel dann Hände: „Wir wollten ihnen buchstäblich etwas in die Hände geben – seien es Herzen, Blumen oder anderes.“ „Es war eine ganz schöne Herausforderung: Wir hatten mehr als 40 Engel ohne Hände im Sortiment, die wir noch fertigten, und haben parallel dazu die neue Kollektion der Engel mit den Händen aufgebaut.“

Ein Einsatz, der sich gelohnt hat. Denn die Hände haben der Kollektion noch einmal einen richtigen Schub gegeben. Heute macht Reichel mit ihnen den Großteil seines Umsatzes – mehr als 20000 der sogenannten Schutzengel verlassen jedes Jahr die Werkstatt in Pobershau. In erster Linie sind das kleine Engel, anläßlich des 30. Geburtstages kamen große Engel und solche in mittlerer Größe dazu. Von den kleinen Engeln gibt es mehr als 90 Versionen, wobei der mit dem Herz der absolute Superstar ist. Die anderen tragen in ihren Händen vielerlei Zubehör wie Kerzen, Blumen, Geschenke und noch mehr. Das macht die kleinen Figuren auch so erfolgreich: Ihre unterschiedlichen Botschaften eignen sich für zahlreiche Anlässe, die uns das ganze Jahr ansprechen.

Alle Figuren entstehen in Handarbeit in der Werktstatt in Pobershau: Die aus Ahorn gedrechselten Teile werden zusammengesetzt und bemalt – die matte Bemalung passt seiner Meinung nach am besten zu den modernen Formen. In vielen, vielen Kisten liegen die filigranen Teile, die die kleinen Engel so unverwechselbar machen: kleine rote Herzen oder wenige Millimeter große Blüten. Auch sie alle von Hand gearbeitet. Ein beträchtlicher Aufwand und eine sehr geübte ruhige Hand gehören dazu, das alles zu einem der kleinen Schutzengel zusammenzusetzen.


Wirtschaftlich ist Günter Reichel zufrieden – er wird auch das Pandemie-Jahr 2020 relativ gut überstehen. Pläne hat er noch in anderer Hinsicht: Er möchte noch einmal ein ganz anderes Sortiment entwickeln, natürlich soll auch das wieder modern sein. Lassen wir uns überraschen.




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